Als die „Deutsche Dichterstiftung“ 1946 das Herrenhaus von Wiepersdorf zur „Arbeitsstätte für Geistesschaffende“ umwandelte, gehörte auch für Gertrud Meyer-Hepner „nicht viel Phantasie dazu, sich in jene Zeit versetzt zu fühlen, da Arnim und Bettina mit Wilhelm Grimm in der Bibliothek gesessen und über die neuen Bücher von Goethe diskutiert haben. Denn diese Bibliothek war noch im selben Raum; in großen eingebauten Schränken, hinter verschlossenen Gittern, standen Erstausgaben der Werke unserer großen Dichter mit gedruckten und geschriebenen Widmungen“. Die Literaturwissenschaftlerin sorgte ab Juni 1951 dafür, dass „Bibliothek und Handschriften nach Berlin überführt und als ‚Bettina von Arnim-Archiv‘ in den Räumen der Akademie untergebracht wurden“. Der Nachlass konnte nicht zusammengehalten werden: Die „ungeordneten Briefsammlungen, Papiere und Drucke aus dem Wiepersdorfer Dachboden“ gingen an die „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur“ in Weimar“. Irene Forbes-Mosse (1864-1946), die Enkelin von Bettina und Achim, übergab ihr Erbe an das „Freie Deutschen Hochstift“ in Frankfurt.
Gertrud Meyer-Hepner (1888-1965) kam immer wieder nach Wiepersdorf. Im September 1960 „die Grabstätten verunkrautet, kein Blümchen, die Schriften verschmutzt“. Von der für Gäste angeschafften Bibliothek war kaum noch etwas vorhanden. „Leider scheinen die Besucher hier für Bücher ein anziehendes Wesen zu haben. Es gibt in der Wiepersdorfer Bibliothek kein einziges Buch von oder über Bettina und Achim. Für eine Arbeits- und Erholungsstätte der Intelligenz eine beschämend dürftige Bücherei. Kein Lexikon, keine Literaturgeschichte und vom genius loci: nichts.“
Eine Bibliothek, die diesen Namen wirklich verdient hätte, gab es auch im Frühjahr 1992 nicht. Vorhanden waren einige Werke von Autoren, die in der Vergangenheit hier häufig preiswerten Urlaub machten und sich den Silvaner aus Freyburg kredenzen ließen. Auf Bitten der neuen Leitung des Künstlerhauses spendeten die (west-)deutschen Verlage Gesamtausgaben, mit denen der Grundstock für eine neue Wiepersdorfer Bibliothek gelegt werden konnte, darunter Ilse Aichinger, Peter Altenberg, Rose Ausländer, Gottfried Benn, Elias Canetti, Paul Celan, Joseph Conrad, Franz Kafka, Hubert Fichte, Sigmund Freud, Wolfgang Hilbig, Hugo von Hofmannsthal, Max Horkheimer, Franz Kafka, Reiner Kunze, Thomas Mann, Neil Postman, Luise Rinser, Arno Schmidt, Arthur Schnitzler, Paul Valery, Franz Werfel, Stefan Zweig sowie Fach- und Wörterbücher nebst dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.
Am 3. Januar 1993 konnte der wissenschaftliche Mitarbeiter des Künstlerhauses Jürgen Stich, der nun mit seiner Arbeit „Die Herrschaft Wiepersdorf im 20. Jahrhundert“ zu den „Wiepersdorfer Spezialisten“ gezählt wird, in die neue Bibliothek im Obergeschoss des ehemaligen Inspektorenhauses einladen.
Die Eröffnungsrede hielt Hans Joachim Schädlich (geboren am 8. Oktober 1935). Wenige Tage zuvor hatte er am 18. Dezember 1992 in Köln den Heinrich-Böll-Preis erhalten. Seine Dankesrede klang nach. Er erlaubte sich, „den Slogan vom ‚Schriftsteller und Bürger‘ umzukehren. Ich rede einfach als Bürger, der den Schriftstellerberuf ausübt. Der Schriftstellerberuf verschafft mir die Gelegenheit, als Bürger Gehör zu finden ... Ein überwiegender Teil der ostdeutschen oder DDR-Intellektuellen war allzusehr geneigt, die wirkliche Unwirklichkeit zu lieben. Wolf Lepenies, dem ich wörtlich folge, hat es so gesagt: ‚Die Intellektuellen in der DDR haben, mit Ausnahmen, das staatssozialistische Regime nicht bekämpft: sie haben es geflohen oder, in beflissener Kollaboration oder mürrischer Anpassung, seine Subventionen erduldet. Und wenn sie in den Jahrzehnten, die die DDR existierte, etwas lernten, so war es die Kunst, beherrscht zu werden … Nein, diese Intellektuellen - von Stephan Hermlin bis Heiner Müller - waren keine Dissidenten, und wir Westdeutschen, die wir nicht in Versuchung geführt wurden, sollten ihnen Feigheit nicht vorwerfen. Aber wenn sich, bis hin zu den Funktionären …, Gruppierungen der Intelligenz, die sich gestern noch ihrer Nähe zur Nomenklatura rühmten; auf einmal geschlossen als innere Emigranten und als Mitglieder der DDR-Resistance zu erkennen geben, muss ihnen kühl entgegnet werden: ,Mit euch war Staat zu machen!‘
Die ‚Nähe zur Nomenklatura‘ reichte weit — bis in die Germanistik. Vertreter der DDR-Germanistik liehen dem Staatssicherheitsdienst als ‚Sachverständigen-IM‘ ihre Dienste. In den Akten, die der Staatssicherheitsdienst über mich geführt hat, fand ich ein sogenanntes literarisches Gutachten aus dem Sommer 1977 - damals lebte ich noch in der DDR -, das von der Hand eines solchen Komplizen-Wissenschaftlers und Schreibtischtäters stammt. Das Fazit dieses Gutachtens bestand einfach darin, mich der Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit und der politischen Strafjustiz der DDR knapp zu empfehlen. Ich verdanke es auch der Solidarität von Schriftstellern aus der Bundesrepublik, vor allem Günter Grass, dass es nicht zu einem politischen Strafprozess gegen mich kam und dass ich die DDR drei Monate nach der Handreichung des germanistischen Sachverständigen-IM verlassen konnte.
Und dann las uns Hans Joachim Schädlich aus seinem soeben bei Rowohlt erschienenen Roman "Schott" vor.
Hans Joachim Schädlich
Schloßspuk
Weil es den Mauer-Staat nicht mehr gab und nicht seine Herren und seine Partei, war das Schloss frei geworden. Es sollte aber den Künsten dienen. Den Künsten dient es ehestens, wenn es freien Künstlern dient, die Wohn- und Arbeitsräume vorfinden und ein Geld für die Zeit des Aufenthaltes. Wer, da nicht mehr eine einzige Partei, sollte die Künstler auswählen, die aus allen Himmelsrichtungen herbeizuholen waren? Das sollte ein Kollegium von Preisrichtern aus zwei Himmelsrichtungen tun, und diesem Kollegium gehörte ich anfangs an. Die Preisrichter trafen sich im Schloss, redeten lange, aßen, tranken, redeten lange und legten sich für eine Nacht nieder nach der Wahl von Künstlern, die sich für einige Zeit sorgenfrei im Schloss aufhalten können sollten.
In der Nacht träumte mir, es sitze ein Fürsprech des verblichenen Mauer-Staates, seiner Herren und seiner Partei auf der nächtlichen Terrasse. Es war mir, als trinke der Mann eine Flasche Wein und stoße von Zeit zu Zeit Verwünschungen aus. Er verfluchte den neuen Chef des Schlosses und drohte, dieser möge nur herauskommen, dann werde er dem schon die Fresse polieren. Im Traum erblickte ich am nächsten Morgen auf der Terrasse aber wirklich den Mann, der mir des Nachts erschienen war. Er hing im Stuhl und schlief. Alsbald erhob er sich, legte sich bäuchlings auf die Parkwiese und schnarchte. Ich meinte, er träume von den Tagen, da er im Schloss Umgang mit anderen Nutznießern des hingeschwundenen Staates gepflegt und sodann in einem Schlossbett genächtigt hatte. Als der Mann von der Anstrengung seiner Flüche genesen war, wanderte er im Schlosspark umher. Ich wollte meiner Traumfigur leibhaftig begegnen und ging zu ihm hin. Er sagte mir: „Das ist unser Schloss!“ und zählte die Leute her, die seine Genossen und Träger herrscherlich geschätzter Namen gewesen waren. Er aber hatte sich aus dem westlichen Landesteil auf den Weg zum Schloss gemacht, damals und diesmal.
In Wirklichkeit hatte ich diesen Spuk nicht in der Nacht nach einer Zusammenkunft des Preisrichterkollegiums geträumt. Ich hatte ihn erlebt in der Nacht nach dem Fest, das gefeiert wurde, weil das Schloss frei geworden war. Aus: Wiepersdorf. Wallstein Verlag 1997